Gespräch mit G. M. Tamás. Über die Stärke von Rechten und Neofaschisten in Ungarn, die soziale Katastrophe in Osteuropa, die Rolle der Sozialistischen Partei und den Charakter der EU
Gáspár Miklós Tamás (geb. 1948) studierte Philosophie, emigierte 1978 aus Rumänien nach Ungarn. Er stand in Opposition zur Kádár-Regierung und war von 1989 bis 1994 Parlamentsabgeordneter für den Freidemokratischen Bund. Von 1991 bis 1995 leitete er das Philosophie-Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und lehrte an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland. Als einer der bekanntesten Intellektuellen Ungarns entwickelte er im letzten Jahrzehnt eine scharfe Kapitalismuskritik und ist bei den Europawahlen Spitzenkandidat eines Bündnisses linker Parteien Ungarns, die Grüne Linke.
In Ungarn hat sich die Rechte, einschließlich faschistischer Kräfte, seit 1989 konsolidiert. Welche Rolle spielt sie heute?
Sie hat eine Art Territorialrecht über alle nationalen Symbole – Ungarn, Vaterland, Patriotismus, die rot-weiß-grüne Fahne, die Nationalgeschichte, das Volkstum usw. Sie haben im symbolischen Bereich gesiegt. Ich bin daher dafür, wieder die rote Fahne auszupacken und bewußt als Linker aufzutreten.
Wie stark ist die Arbeiterbewegung und alles, was links von den derzeit regierenden Sozialisten steht?
Es ist scheintot und bewegt sich nicht. Es schien begraben zu sein. Aber es ist an der Zeit, aus den Gräbern und aus dem Schweigen herauszutreten. Als wir das Bündnis für die Europawahlen bildeten, haben wir einfach erklärt: »Wir sind hier, kommt zu uns, die Linke existiert, Sozialismus ist das Ziel«. Das ist zwar nicht viel mehr als ein Ruf in die Nacht, aber nicht verzweifelt, sondern kühn. Dieser kleine Kreis von alten Kommunisten, ehemaligen Mitgliedern der Sozialistischen Partei und Liberalen bis hin zu jungen Leuten, die nicht in Ungarn, aber dank der EU wenigstens in England oder Frankreich an Universitäten ein bißchen Marxismus lernen konnten, sucht eine wirksame Waffe gegen Krise, Armut, Rechtsextremismus und Gewalt. Das ist ein völliger Neuanfang.
Dabei will ich hervorheben, daß ich vor 1989 ein Dissident war, Berufsverbot hatte und einer der Hauptsprecher der Opposition 1988/89 war, auf Großdemonstrationen auftrat und für den Freidemokratischen Bund im Parlament saß. Dann habe ich mich zurückgezogen, bin wieder in die Bibliothek und »zur Schule« gegangen und in den späten 90er Jahren Marxist geworden. Ich habe eine libertäre Vergangenheit, die ich bewahrt habe, glaube aber, daß ich jetzt ein revolutionärer Sozialist bin. Zur üblichen Profi-Politik will ich nicht zurück, aber in einer konventionellen Wahlkampagne ist das Establisment gezwungen, ein wenig auf unsere Stimme zu hören. Das kann man für kritische Propaganda ausnutzen.
Was hat Sie ins linke Lager geführt und zum Marxisten gemacht?
Das ist nicht Ungarn geschehen, sondern es ist eine internationale Bewegung. Meine ersten Kontakte zu linken Personen, nicht nur zu Büchern, hatte ich in England und Frankreich. Ich bin Philosoph von Beruf und war daher und bin in verschiedenen akademischen Einrichtungen in England tätig. Dort gibt es einen Durchbruch des Marxismus an den Universitäten und Forschungsinstituten. Er hat dort nicht in Betrieben und Fabriken gesiegt, aber an den Universitäten.
Das kann man so formulieren?
Ja, das ist so. Es gibt jede Woche an Hochschulen Kundgebungen, Vorlesungen, Seminare dazu. Da geht es vor allem um Theorie, aber auch um einfache praktische und politische Fragen.
Bei mir handelt es sich darum: Ich bin einer der Begründer der bürgerlichen Republik in Ungarn und bin nun mit den Resultaten konfrontiert. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Was ich jetzt politisch mache, ist eine Art Reparatur, eine Selbstkritik, denn es ist fundamental gescheitert. Das bedeutet nicht, daß ich den realen Sozialismus rehabilitiere, aber ich muß einräumen, daß Ungarn – ein Land von zehn Millionen Einwohnern – in den ersten drei Jahren der bürgerlichen Demokratie zwei Millionen Arbeitsplätze verloren hat, ohne daß die politische Klasse das diskutiert hat. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß es in den vier Jahren, in denen ich Abgeordneter war, eine einzige Debatte darüber gab. Wir müssen auch sehen, daß der »real existierende Sozialismus« – wie engstirnig und repressiv er auch war – mehr Gleichheit, mehr soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit gewährleistete. Das sind aber Dinge, die für das Leben eine gewisse Bedeutung haben. Existenzunsicherheit und Gefahr sind keine gute Erziehung für die Gesellschaft, sie machen selbstsüchtig, ängstlich und gewalttätig. Man muß also neue Wege suchen, aus eigenen Fehlern lernen und ehrlich zugeben, daß wir 1989 Unrecht hatten. Die Schaffung dieser bürgerlichen Demokratien, die Etablierung einer ultraliberalen, ultrakapitalistischen Politik war in schwachen Ökonomien wie den osteuropäischen eine Katastrophe. Daran nahmen alle bürgerlichen Parteien teil und halten daran fest.
Unser größtes Problem in Ungarn ist heute wahrscheinlich der Umgang mit den etwa 800000 Roma in unserem Land, die sogenannte Zigeunerfrage. Das ist nicht nur wie in einigen westlichen Ländern ein Problem mit Rechtsextremisten, die eine Minderheit bedrohen. In Ungarn gibt es außerdem einen fließenden Übergang von der Mainstreampolitik der bürgerlichen Parteien zum Rechtsextremismus. Ein Beispiel: Der Staat stellt für soziale Hilfen winzige Summen zur Verfügung, das hat einen erbitterten Kampf, einen Klassenkampf von oben um Umverteilung und Gerechtigkeit zur Folge. Die bürgerlichen Parteien, inbegriffen die regierende Sozialistische Partei, wollen natürlich das Kapital und die Mittelschichten retten. Es gibt aber etwa 800000 Menschen, zumeist Roma, die an der absoluten Armutsgrenze leben. Sie werden kriminalisiert, und Armut wird ethnisiert, denn man schuf eine Ideologie, der zufolge es legitim ist, diesen Ärmsten der Armen keine Sozialleistungen zu gewähren. Die sogenannten Mitte-Links-Parteien erklärten stets, daß sie antirassistisch und für Menschenrechte sind, aber sie waren es, die im Parlament die neuen Sozialgesetze mit entsprechenden Bestimmungen verabschiedet haben. Das Programm der Sozialistischen Partei trägt den Titel »Der Weg zu Arbeit«, der Untertitel lautet »Arbeit statt Sozialhilfe«, aber diese Gesetze bedeuten Knast statt Sozialhilfe. In Ungarn spricht man öffentlich von den »kriminellen Klassen« wie im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich.
In der Krise ist nun ein Resultat dieser Stimmung, daß sich in Ungarn eine anti-egalitäre Haltung verfestigt hat. Von den Liberalen bis zu den Rechtsextremen werden eine »strenge Behandlung« der Armen, der »Faulenzer« und der »Kriminellen« gefordert. Es gibt eine massive Propaganda gegen die »Inaktiven« wie Rentner, Studenten, alleinerziehende Mütter usw. Wer nicht das Kapital bedient, gilt als überflüssig. Es gibt eine erschreckende Stimmung gegen ältere Leute. Die Regierung hat jetzt die 13. Monatsrente zurückgenommen – es gab keinen Protest. Die Haltung derer, die öffentlich eine Stimme haben, ist volksverachtend und menschenfeindlich. Die Arbeiterklasse schweigt, die Mittelschichten plaudern, die »Underclass« und die Roma sind verzweifelt. Die Gewerkschaften sind sehr schwach und entsprechend feige. Es gibt fünf Gewerkschaftsverbände auf nationaler Ebene; keiner hat viele Mitglieder. Nehmen Sie internationale Streikaktionen – in Ungarn beteiligte sich niemand. Die einzige Protestbewegung sind Streiks im öffentlichen Sektor.
Sind die Arbeiter so eingeschüchtert oder…
Eingeschüchtert und nicht organisiert.
…resigniert und zersplittert?
Nicht zersplittert. Sie haben massiv für die Sozialistische Partei gestimmt. Die Neubausiedlungen waren deren Bastionen. Aber natürlich haben sie vor sieben, acht Jahren nicht für eine neoliberale Politik votiert. Jetzt werden sie die Sozialistische Partei nicht mehr wählen, aber die Arbeiter haben faktisch keine Organisationen mehr. Hinzu kommt: Es gibt keine linke Zeitung, keine linke Radiosendung, keine sichtbare linke Intelligenz. Es gibt keine öffentliche Stimme, die sagt, daß von der Bourgeoisie, vom Staat etwas zu verlangen ist und Kompromisse zu erzwingen sind. Daher wollen wir daran arbeiten, daß die Neigung zum Widerstand wiederbelebt wird. Sie müssen sich das so vorstellen: Seit 1989 wurde in Ungarn nicht eine Zeile von Karl Marx veröffentlicht.
Tatsache?
Ja, keine einzige Zeile und keine linke Theorie mit Ausnahme vielleicht des Soziologen Pierre Bourdieu (1930–2002). Die 40 Jahre linker marxistischer Literatur, Gefühlswelt und Tradition sind verschwunden und vergessen. Es gibt zwei neue Auflagen von Werken des Philosophen Georg Lukács (1885-1971), aber nur seine konservativen Schriften aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, kein marxistisches Werk.
Die ehemaligen Linken haben sich von ihrer Vergangenheit verabschiedet. Ich will nur ein Beispiel anführen, nicht weil es mich betrifft, sondern weil es charakteristisch ist. Ich habe einen ganz banalen Artikel über »Das Schweigen der Intellektuellen« geschrieben, in dem es einige Sätze über die israelische Politik im Gazastreifen gab. Die ungarischen Zeitungen hatten dieses Thema schlimmer behandelt als die israelische Presse. Ich wurde sofort von einer weltberühmten, ehemals marxistischen Philosophin als antizionistischer Demagoge angegriffen. Wir waren seit 40 Jahren befreundet und sie weiß genau, daß ich keiner bin. Nicht nur, weil meine Großmutter in Auschwitz gestorben ist, sondern weil ich mein ganzes Leben gegen Nationalismus und Antisemitismus gekämpft habe. Der Vorwurf ist lächerlich. Aber die israelische Regierung zu kritisieren ist für diese liberale Intelligenz Antisemitismus. Das bedeutet, daß sie nicht mehr liberal, sondern konservativ und nationalistisch geworden ist. Es gab drei Wochen lang in der Öffentlichkeit einen Riesenkrach. Aber ich habe kein Wort mehr darüber verloren.
Mit dem Antisemitismus-Vorwurf wird in der deutschen Linken und gegen sie ähnlich großzügig umgegangen.
Das wird in Deutschland sehr streng gehandhabt, ist aber in England oder Frankreich völlig anders. Solche Äußerungen wie von Gregor Gysi, die Solidarität mit Israel sei Teil der Staatsräson, sind dort nicht vorstellbar. In Ungarn ist die Lage wieder anders: Dort wäre eine solche Aussage gefährlich. Wir haben offen faschistische Kräfte und eine Tageszeitung – die ehemals linke, aber von einem Milliardär aufgekaufte Magyar Hírlap – in der praktisch »Juda verrecke« zu lesen ist. Dort wurde ein Artikel eines ehemaligen konservativen Parteivorsitzenden veröffentlicht, der darin behauptete, das »Zigeunerproblem« – und die Weltkrise – seien von den Juden verursacht. Sie benutzten die Roma als Schlägertruppen und dazu, das ungarische Volkstum zu vernichten.
Wie stark sind die organisierten faschistischen Bewegungen?
Das ist nicht klar. Es gibt eine sogenannte Mitte-Rechts-Partei und nun Jobbik, das bedeutet »das Beste« oder »die Rechten«. Ursprünglich war das ein Universitätsverein, jetzt ist es eine stramm organisierte Partei von Politprofis, von jungen Anwälten in eleganten Anzügen. Die sagen in sehr kühlem Stil, nicht in der Tradition der ungarischen Hitler-Verbündeten, der Pfeilkreuzler, die leidenschaftlich und populistisch waren: »Wir werden euch alle hinrichten.« Sie benutzen ganz offen die Symbole der Pfeilkreuzler. Die Fahnen dieser Nazibewegung wehen über Amtsgebäuden. So etwas entscheiden lokale Räte, Bürgermeister, es gab auch ein Gerichtsgebäude mit dieser Flagge.
Als Magyar Hírlap forderte, »das Zigeunerproblem« zu lösen, erklärte Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány, staatliche Einrichtungen sollten zukünftig diese Zeitung nicht mehr abonnieren. Daraufhin gab es Erklärungen z.B. von Gerichtspräsidenten, sie seien unabhängig, hätten bislang diese Zeitung nicht gehalten, wollten das aber nach dieser Erklärung tun. Natürlich gibt es Prozesse gegen rechte Gewalttäter, aber es ist wie in der Weimarer Republik: Sie werden nicht verurteilt, sondern man gratuliert ihnen. Im übrigen machen die Rechten ihre Gegner im Internet namhaft mit Adresse und Telefonnummer.
Heißt das, wer opponiert, geht ein hohes Risiko ein?
Ich bin schon in Budapest auf der Straße beim Spazierengehen verbal angegriffen worden, obwohl ich meine kleine vierjährige Tochter an der Hand hatte. So etwas war in der Vergangenheit ein Tabu, das ist es jetzt nicht mehr.
Der zivile Umgang miteinander ist in Erosion?
Ja, es kann passieren, daß öffentlich gerufen wird: »Bist Du auch ein Jude?« Das gab es vor drei Jahren noch nicht.
Die FAZ hat kürzlich noch vor der Rücktrittsankündigung von Gyurcsány sinngemäß geschrieben, der rechte Block könne in Ruhe die nächsten Wahlen abwarten, er gewinne in jedem Fall.
Bei uns könnte es ein Wahlergebnis wie in Polen geben: 90 Prozent Rechte. Das ist nicht sicher, aber möglich. Die nationalkonservative Rechte ist im Moment sehr zurückhaltend, weil ihr Geschäft von den Medien, den Rechtsradikalen und von der Regierung besorgt wird…
Kann man sagen: Die Regierung der Sozialisten war der beste Helfer für diese Entwicklung?
Allerdings. Hinzuzufügen wäre, daß die Sozialistische Partei direkt an der rassistischen Stimmung mit Schuld trägt. Ihr Sprecher für Bildungspolitik hat z. B. die Integration im Schulwesen für gescheitert erklärt und Spezialschulen für Roma gefordert. Die Integrationsprogramme des Bildungsministeriums wurden vorläufig eingestellt. Den rassistischen Akzent ihre Sozialgesetzgebung habe ich schon erwähnt.
Welche Unterschiede gibt es zwischen den Sozialisten und dem liberalen Lager?
Die Sozialistische Partei will einige Tabus nicht offen brechen. Ansonsten sind die Unterschiede soziokultureller Art. Es ist heute eine Partei lokaler Größen – von Behördenchefs, von ehemaligen LPG-Vorsitzenden, die jetzt Bürgermeister sind usw. Sie sind z. T. reaktionärer als die anderen, haben aber das Etikett Linke oder Sozialisten, weil sie im realen Sozialismus Würdenträger waren. Die jüngeren Politiker und Aktivisten sind schlimmster Art, noch übler als bürgerliche Karrieristen, korrupt und völlig zynisch. Man kann mit ihnen sehr wenig anfangen. Die Sozialistische Partei ist moralisch, organisatorisch und wahrscheinlich bald auch politisch tot.
Die jetzige Regierungskrise nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten und SP-Vorsitzenden Ferenc Gyurcsány ist geführt in der besten Tradition der damaligen k.u.k.-Monarchie: blutiges Kabarett. Man will einen sachkundigen neokonservativen Ökonomen finden für den Posten »Regierungschef und Sündenbock« für das Fortsetzen des erweiterten Sozialabbaus – und alle lehnen ab. Niemand will mehr zusammen mit den gehaßten Sozialisten und Linksliberalen gesehen werden, doch alle Powereliten sind sich darin einig, daß Sparmaßnahmen und Niedriglöhne ewige Wahrheit und Naturgesetz sind. Mörderische Leidenschaften zwischen »neokonservativer« Rechter – Mitte-links genannt – und »nationaler« Rechter – mehr obrigkeitsstaatlich und ordungkonservativ – hindern niemanden, in allen wesentlichen Fragen völlig einverstanden zu sein. Das ungarische Volk ist von keinem Belang.
Ungarn lebt nicht im luftleeren Raum, ist Mitglied der EU. Es war auf einen riesigen Kredit des Internationalen Währungsfonds und der EU angewiesen, um nicht zahlungsunfähig zu werden. Befördert das den Nationalismus noch mehr?
Vergessen Sie nicht, in welchem sehr gefährlichen Kontext wir leben. Schauen Sie sich die Wahlergebnisse in Österreich an, in Norditalien mit der Lega Nord – das ist das Milieu in unserer Nachbarschaft. Dazu das konservative Bayern und nicht zu vergessen die Tschechische Republik. Da gab es einen stellvertretenden Ministerpräsidenten, der sehr populär geworden war, weil er als Bürgermeister einer Kleinstadt ein regelrechtes Ghetto mit hohen Betonmauern für Roma gebaut hatte. Kritisierte deswegen irgend jemand Tschechien? Analoges spielte sich in der Slowakei, in Ungarn und in Rumänien ab. Aber Osteuropa ist in der westlichen Medienlandschaft ein schwarzes Loch. Bohrt sich einmal eine solche Nachricht durch, ist man verblüfft und überrascht.
Welches Verhältnis haben die westeuropäischen EU-Länder aus Ihrer Sicht zu Osteuropa?
Der Konsens in der Mainstream-Wirtschaftspolitik der entwickelten Länder lautet, daß man in der Krise einige Wiederbelebungsversuche anstellen, d.h. Geld in die westeuropäische, aber nicht in die osteuropäische Wirtschaft pumpen soll. Dieser Konsens schließt für Osteuropa die Verpflichtung ein, den neoliberalen Kurs fortzusetzen, also etwa die Kennziffern für das Staatsdefizit einzuhalten. Dazu werden wir gezwungen. Sollte ich die Ehre haben, im Europaparlament sprechen zu dürfen, möchte ich dazu einiges sagen, z. B. daß wir Gleichheit nicht nur formal zwischen den Staatsbürgern haben wollen, sondern auch zwischen den EU-Ländern. In Osteuropa leben etwa 100 Millionen Menschen, die wirtschaftlich und sozial sehr gefährdet sind. Sie sind nur in der Theorie vollberechtigte Mitglieder der Gemeinschaft, in Wirklichkeit sind sie Bürger zweiter Klasse. Das muß geändert werden.
Muß man diesen Klub auflösen?
Er muß verändert werden. Natürlich ist das jetzt eine imperialistische Organisation mit einer winzigen demokratischen Komponente. Kein Sozialist kann von dieser EU begeistert sein. Als die Abstimmung in Frankreich 2005 gegen den Verfassungsvertrag erfolgreich war, habe ich in einem Artikel dem französischen Volk gedankt. Danach traf ich den Leiter des Forschungsinstitutes der Sozialistischen Partei auf der Straße, und er sagte: »Ich habe deinen Artikel gelesen. Bist du noch gesund?« Das war die Haltung der Regierungspartei gegenüber einem demokratischen Abstimmungsergebnis.
Fazit: Die Linke muß bei Null anfangen?
Ja, sie ist schwach, aber ich bin überzeugt, daß sie benötigt wird.
Welche Chancen haben Sie mit Ihrer Kandidatur für das Europaparlament?
Das ist völlig unsicher, aber Überraschungen sind möglich. Das wichtigste ist, eine Debatte zu starten. Man muß gegen den Status quo von einem humanistischen, der Gerechtigkeit verpflichteten Standpunkt aus opponieren. Im Moment tun die Neofaschisten so, als seien sie gegen das System. Sie greifen verbal den Kapitalismus an, tatsächlich unterstützen sie ihn. Das große Publikum kennt nur die Wahl zwischen Neoliberalen oder Rechtsextremen. Es geht daher darum zu zeigen: Es gibt eine Alternative.(jW)